29.08.2016

Kooperation mit Tiflis

Anlässlich einer Delegationsreise der Universität Bremen nach Tiflis, Georgien vom 02.–07.05.2016 führten Frau Konrektorin Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Jochen Zimmermann (FB 07), Herr Prof. Dr. Tassilo Schmitt und Herr Dr. Alkiviadis Ginalis (beide FB 08, Institut für Geschichtswissenschaft) sowie Herr PD Dr. Rainer Bremer (FB 12 bzw. ITB) mit zahlreichen Vertretern der Ivane Javakhishvili Tbilisi State University (TSU), der Ilia State University (ISU), der Deutschen Botschaft Tiflis und dem dortigen Büro des DAAD Gespräche zur weiteren Ausgestaltung der bestehenden Zusammenarbeit. Vorbereitet und begleitet wurde die Delegation durch Frau Nurten Kurnaz vom International Office.
Gruppenbild in Tiflis
Bereits 1998 kam es zu einer Kooperation der Universität Bremen mit der Ivane Javakhishvili Tbilisi State University (TSU). Damals haben die Juristen – wie in vielen vergleichbaren Fällen der Transformation eines postsowjetischen Staates mittels einer demokratischen Verfassung in einen Rechtsstaat – beratende Hilfe geleistet. Diese Vorgänge haben, auch wenn sie noch immer nicht vollständig abgeschlossen werden konnten, bis heute den Vorteil einer Zusammenarbeit gewahrt, die nicht von politischen oder finanziellen Asymmetrien, sondern von akademischem Austausch geprägt ist.

Nach 1998 sind Kontakte zur TSU und ISU zur Bremer Universität durch Tassilo Schmitt und Jochen Zimmermann aufgebaut worden. Die Verbindung der Althistoriker kann sowohl auf eine bedeutende Tradition (so ist in Georgien Deutsch die Wissenschaftssprache des Fachs) als auch breit angelegte, höchst aktuelle Forschungsfragen (z. B. die „Entdeckung“ und Ausgrabung einer legendären Stadt an der georgischen Schwarzmeerküste) zurückgreifen. Hierbei ging es nur noch darum, Absprachen über die künftige Zusammenarbeit zu präzisieren.

Jochen Zimmermanns Kooperationsangebot war etwas anders gelagert. Ökonomie und Betriebswirtschaft sind in beiden Ländern arbeitsmarktrelevante, aber nichts desto weniger universitäre Fächer bzw. Disziplinen. Es versteht sich von selbst, dass die universitäre BWL vom modernen Rechnungswesen bis zu Marketingkonzepten eine erhebliche Hilfe dabei leisten kann, die „postsowjetischen Verhältnisse“ an Universitäten zu überwinden. Auf der technologischen Seite finden Managementkonzepte großes Interesse, auf der inhaltlichen z. B. der Tourismussektor. Zumindest theoretisch könnte dieser schnell und wirkungsvoll erschlossen werden. Dafür sprechen der einzigartige Reiz und die landschaftliche Vielfalt des Kaukasus sowie das niedrige Preisniveau. Hindernisse bestehen vor allem in politischen Risiken und einer Infrastruktur, die eher zu Abenteuerreisen als zu Erholungs- und Bildungsreisen einlädt.

Die bestehende Kooperation, auf Bremer Seite getragen von den Althistorikern und Ökonomen, regten die Überlegung an, ob nicht in der Breite der jeweiligen Lehr- und Forschungstätigkeiten an den drei Universitäten weiteren Fachbereichen ein Kooperationsangebot gemacht werden sollte. Das ITB nahm mit seiner Internationalen Abteilung für Berufsbildung die Einladung an – und brachte seine Vorerfahrungen mit postsowjetischen Staaten ein. Während bei der Kooperation der Althistoriker das akademische Milieu konstitutiv für jede Art von Initiative und Wirkung ist, macht sich bei den Ökonomen bereits eine Schieflage in der rein akademischen Berufsvorbereitung bemerkbar. Es fehlt im Grundsatz der Adressat verwissenschaftlichter betriebswirtschaftlicher Qualifikationen. Der private Sektor ist praktisch nicht beteiligt und wäre auch nicht unbedingt geeignet, moderne Qualifikationen aufzunehmen. Die universitäre Ausbildung in Georgien ist weitgehend gegen den Arbeitsmarkt abgeschirmt. Und eine Konkurrenz der Art, dass ausländische Investoren moderne Fabriken oder Handelsunternehmen gründen, kommt nicht auf, weil u. a. die politischen Verhältnisse keine verlässlichen Perspektiven zulassen. Das belegen einige negative Beispiele von Unternehmen, die sehr wohl nach Georgien gekommen sind und dort investierten, die sich aber wieder aus dem Land zurückgezogen haben.

Betrachtet man nun den Arbeitsmarkt unterhalb der rudimentär vorhandenen akademischen, aber nichts desto weniger beruflich verwertbaren Qualifikationen, dann bleibt erst einmal nur die sarkastische Feststellung, dass Georgien nach OECD-Norm wohl ein modernes, fortschrittliches Land geworden ist. Abitur und Hochschulabschlüsse auf der einen Seite und die Absenz jedweder beruflichen Ausbildungsstruktur auf der anderen Seite zeigen fast ein neuseeländisches Niveau. Von einer Ausbildung junger Menschen kann man nur an den Hochschulen und Universitäten sprechen. Die Kehrseite dieser systematischen Fehlqualifizierungen zeigt sich in der für unsere Verhältnisse unerträglich hohen Jugendarbeitslosigkeit.

Darin wirkt bis heute das sowjetische Erbe fort, das gesellschaftlich eher verstärkt als überwunden wird. Akademische Bildung und der Zugang zu ihr durch entsprechende Schulabschlüsse hat gesellschaftlichen Exklusivstatus erreicht. Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder studieren. Dem kommen die georgischen Universitäten dank ihrer polytechnischen Ausrichtung nach dem von Lenin bestimmten französischen Vorbild entgegen: Sie bilden in allen irgendwie verwissenschaftlichen Fächern aus und haben insofern auch eine Art Monopol einerseits auf die Vermittlung gesellschaftlich nützlicher Qualifikationen, andererseits auf die Prägung dieser Qualifikationen, die einigermaßen weit entfernt vom Ort ihrer späteren Ingebrauchnahme entstehen. Dabei bleibt der akademische Arbeitsmarkt schmal, der universitäre geradezu unbedeutend. Aber selbst wenn es anders und besser wäre: So reicht zwar die institutionalisierte Qualifizierung für die Etablierung einer höheren und mittleren Leitungsschicht; darunter findet sich dann allerdings kein nach expliziten Qualifikationen strukturierter Arbeitsmarkt.

Wie in vielen postsowjetischen Ländern, zumal im südöstlichen europäischen Raum, findet Qualifizierung für den handwerklich oder gewerblich-technischen Sektor informell, auf dem Schwarzarbeitsmarkt betriebsindividuell als Training on the Job statt. Damit kompensiert man zwar den Mangel an geordneten Strukturen, erweist aber den offiziellen bildungspolitischen Zielen einen Bärendienst, weil sich hinter den opportunistisch erworbenen Qualifikationen keine Berufsbildung von solchem Gewicht abbilden lässt, dass sie sich merklich von der allseits angestrebten gymnasialen Allgemeinbildung abheben würde. Eine Berufsbildung existiert weder strukturell noch kulturell, geschweige denn operationell auf einem Niveau, das industriegesellschaftlichen Qualifikationsanforderungen an Technologie und Organisation der Arbeit entsprechen würde.

Nach Jahren der Reformen ist das wenigstens zu politischem Bewusstsein gekommen. Uns wurde vermittelt, dass nach keinem der stets zu erwartenden Regierungswechsel mit einer Absenkung der längst priorisierten Berufsbildung zu rechnen wäre. Im Gegenteil, der Blick scheint immer klarer darauf gerichtet, ein Berufsbildungssystem als Ganzes zu etablieren, von der rechtlichen Seite der Ordnungsmittel her über eine Akademisierung der Berufsschullehrerausbildung bis hin zu einer auf Qualifikationsforschung beruhenden Berufsystematik, die analog zu den in Deutschland 1969 eingeführten Berufsfeldern Berufe auf Facharbeitsniveau, die Meister- und Technikerausbildung und die anschließenden Disziplinen der Ingenieurwissenschaften umfasst.

Dank der vorausgehenden TEMPUS IV-Projekte sind die Instrumente seitens des ITB bereits präpariert. Module für Bachelor-Studiengänge liegen im Tourismussektor vollständig vor, die curriculare Struktur wäre umstandslos auch darüber hinaus anwendbar. Ebenso stehen Methoden einer sowohl einfachen als auch standardisierten Qualifikationserhebung im empirischen Feld nationaler Arbeitsmärkte zur Verfügung. Die damit erfassbaren Anforderungen an qualifizierte Arbeit könnten ohne nennenswerte Ressourcen zu Curricula ausgearbeitet werden, die idealiter wiederum die fachliche Basis für ein wissenschaftliches Berufsschullehrerstudium abgeben würden.

Abgesehen von den international aufzubringenden Fördermitteln, über deren Einwerbung zur Zeit noch nichts berichtet werden kann, fehlt es erheblich an den Voraussetzungen, die genannten Instrumente anzuwenden: Lenins Sowjetunion, die erheblich mehr von den kapitalistischen Steuerungs- und Planungsinstrumenten des Amerika im frühen 20. Jahrhundert übernommen hat, als heute auf den ersten Blick erkennbar oder bewusst ist, huldigt, was Qualifikationen angeht, dem Taylorismus auf der einen Seite und dem Psychologismus auf der anderen, was pädagogische, respektive berufspädagogische Fragen angeht. Didaktik und „lernen“ werden als unter psychologische Kategorien subsumierbar gedacht – „lehren“ ist damit nicht mehr als die Anwendung weniger, universell gültiger psychologischen Grundregeln. In der Praxis läuft das darauf hinaus, dass das einzige Institut für Lehrerbildung der Fakultät für Psychologie angegliedert ist und genau zwei Mitarbeiter beschäftigt. Daran lässt sich erkennen, in welchem Umfang die für eine Kooperation in der Lehrerbildung erforderlichen Basisstrukturen vorliegen.

Der Zeitpunkt der Reise lag durchaus günstig zwischen abgeschlossenen Antragsverfahren und der administrativen Vorbereitung neuer Ausschreibungen. Zwar konnten bis heute noch keine Förderanträge gestellt werden, aber die Sondierung infrage kommender Partner hat bereits begonnen. Mit der anstehenden Veröffentlichung neuer Förderschwerpunkte und dem wahrscheinlichen Fall einer Übereinstimmung derselben mit den avisierten Kooperationszielen könnte der nächste logische Schritt einer Zusammenarbeit in verschiedenen Punkten der Berufsbildung eingeleitet werden.

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